6. November 2025 – Ein aufregender Termin
Ich habe einen Indikator, der mir zeigt, ob ich mental ausgeglichen bin: Wenn ich morgens an einem Fuß den Socken und den Schuh in einem Durchgang ohne zwischendurch abzusetzen oder zu kippeln im Stehen anziehen kann (ggf. inklusive Schnürsenkel), dann ist alles top. Je mehr ich wackele, desto unausgeglichener bin ich.
Heute schlug der Indikator völlig fehl. Ich bin nämlich sehr ausgeglichen, habe jedoch vom Schwimmen gestern noch Wasser im Ohr und dann geht mir immer der Gleichgewichtssinn flöten. Schon allein deshalb kann ich nicht mehrfach pro Woche schwimmen gehen, ich würde nur noch taumeln.
Ich nahm heute zwei Termine wahr. Der erste war der spannendere. M hat eine alte Kleinbildkamera, an der sie sehr hängt und die ist ihr leider neulich heruntergefallen. Seitdem löst sie nicht mehr aus. Es ist keine Kamera, die man irgendwie einschicken oder in einen Kameraladen bringen könnte, die reparieren so etwas nicht.
Also informierte ich mich online und fand in Frankfurt einen Menschen, der mir geeignet erschien. Die Internetrezensionen weckten mein Interesse: „unangenehmer Typ“, „unfreundlicher Umgang“, „respektlos und unverschämt“ aber auch „fachlich absolut versiert“, „in echter Profi und Fachmann“, „Gentleman alter Schule“ und schließlich zusammenfassend „ein Individualist“ und „ein Original“.
Ich war sehr gespannt, wie ich mich mit dem Herrn verstehen würde, schon seit Wochen, so lange dauerte es nämlich, bis ich hingehen konnte. Denn er hat nur an drei Tagen pro Woche geöffnet und dann nicht morgens, nicht mittags und auch nicht abends, sondern zwei Stunden mitten am Vormittag und zwei Stunden mitten am Nachmittag.
Heute war der große Tag! In den ersten Minuten des Gesprächs hatte ich meinen Robert-Frost-Moment, sah die Gabelung zu den beiden Wegen, auf denen es weitergehen könnte, sehr klar vor mir. Da ich mental so ausgegleichen war, konnte ich mich mit dem Herrn gut einschwingen, letztendlich plauderten wir eine Dreiviertelstunde. Ob die Reparatur gelingen wird, ist noch offen, doch er versucht es und ich bin überzeugt: wenn er es nicht kann, gibt es niemanden auf der Welt, der das kann.
Der zweite Termin war am Abend: Friseur oder Friseurin, das ließ sich vorher nicht erkennen, das Buchungssystem ist eigensinnig. Vor Ort stellte ich fest, dass es heute der Friseur war, zum ersten Mal seit langem wieder. Und zum ersten Mal überhaupt hatte ich einen Abendtermin, er war schon sehr erschöpft und ging erstmal raus „einen durchziehen“, damit er sich wieder konzentrieren könne. Ich verschickte in dieser Zeit ein paar Wordfeud-Einladungen – gestern vor dem Einschlafen hatte ich versehentlich eine Spielanfrage angenommen, eigentlich spiele ich ja gar nicht mehr, also: spielte ich ja gar nicht mehr. Keine 24 Stunden später hänge ich wieder komplett am Haken.
Jedenfalls konnte der Friseur sich dann trotz Müdigkeit noch einmal aufraffen und ich bin wieder gut geschoren. Während des gesamten Haareschneidens plauderten wir über Filme und Serien, was für mich eine Art Kommunikationsexperiment war, da ich bekanntlich weder Filme noch Serien schaue. Ich wollte mal ausprobieren, wie weit ich mit Sekundärwissen, das ich aus überhörten Unterhaltungen und aus mitgelesenen Konversationen in Social Media erworben habe, komme. Nun weiß ich: für ein Friseurgespräch reicht es locker aus, ich konnte ihm ein paar Tipps geben, denen er nachgehen wird und ein paar Filme überzeugend kritisieren. Andererseits: vielleicht machte der Friseur selbst auch ein Experiment. Eine Person, die den ganzen Tag mit allen möglichen Leuten Smalltalk machen muss, verfolgt dabei ganz sicher immer irgendwelche Ziele, die nur ihr selbst bekannt sind. Sonst würde sie ja wahnsinnig.
Abends noch eine Mail eines Mitarbeiters im beruflichen Postfach, die ich nur als kurzsichtig und reaktiv – kurz: dumm – bezeichnen kann. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll, ohne gleich die ganze Welt zu erklären. Gleichzeitig weiß ich auch nicht, wie ich sie ignorieren könnte. Ein Dilemma.
