Hinfallen, Krönchen richten, weitermachen! Carpe Diem!

In den Kommentaren werden mir diese beiden „Sinnsprüche“ angereicht, damit ich mich auslassen kann, warum ich sie hasse.

Sehr gerne.

Carpe Diem! (unbedingt mit Ausrufungszeichen) hört man meist im Frühjahr oder Sommer. Im Herbst oder Winter ist das nicht so angesagt, da ist es offenbar okay, den Tag mal nicht zu nutzen sondern verstreichen zu lassen.

Ich halte schon per se nichts von Aufforderungen an andere, deren Leben wir null beurteilen können. Eigene Ansätze schildern, Impulse geben, Ideen suchen gerne, Aufforderungen JETZT NUTZ DOCH DEN TAG VERDAMMT NOChmAL SCHLAFEN KANNST DU WENN DU TOT BIST ja meine Güte, kommen wir da schon in den Bereich von „Lebe jeden Tag als wäre es dein letzter“ und was ist dann mit der Nachhaltigkeit? In wessen Sinne soll ich denn was nutzen, was ist nutzen überhaupt?

Wir können uns auf etwas stabileres Terrain retten: „Also, „nutzen“ heißt das zu machen, was du willst, was dir gut tut“. Aha. Schöner Allgemeinplatz, worüber sprechen wir hier, was war jetzt der Anlass, überhaupt irgendeinen Sinnspruch aus der Mottenkiste zu ziehen? Und kann ich auch mal Sachen tun, die mir nicht gut tun, weil sie anderen gut tun? Das tut mir dann natürlich sozusagen gut-by-proxy, weil ich es für richtig halte, auch wenn es mir nicht gut tut, es tut mir ethisch gut, irgendwie scheinen wir uns immer dahin retten zu können, dass am Ende dann doch alles gut ist und sonst, Achtung neuer Spruch, ist es noch nicht das Ende. (Irgendwann halt doch.)

Sagen wir mal einer Person, die sich gerade komplett zwischen Pflege von Angehörigen, Geldsorgen und Job zerreibt „Carpe Diem!“ oder, weniger hoch aufgehängt, jemandem mit akut Magen-Darm.

Ich denke, es reicht, wenn wir es immer noch bis zum nächsten Tag schaffen. Wunderbar, wenn es klappt, Spaß dabei zu haben. „Carpe Diem!“ ist ein Luxus für Leute, die nicht wirklich was zu tun haben.

Der andere ist eigentlich noch schlimmer, weil: noch dümmer. „Hinfallen, Krönchen richten, weitermachen!“ Erst einmal: wieso überhaupt Krönchen? Sprechen wir mit einem Kind im Prinzessinnenglitzerkleid? Was ist da sprachlich los, geht es mit noch etwas mehr Herablassung?

Dann, inhaltlich: was ist, wenn ich lieber was anderes machen will statt weitermachen? Könnte ja sein. Was ist, wenn ich mir echt weh getan habe? Muss ich das ignorieren, weil „ALLES WAS NICHT TÖTET HÄRTET AB!!“? Wird es nicht so sein, wenn ich sage, nee, ich mache jetzt nicht weiter, das war so richtig Scheiße, das brauche ich kein zweites Mal, dass ich einen guten Grund dafür habe und dass ich das vollumfänglich einschätzen kann und mir herablassende Sprüche erspart bleiben sollten?

Auch möglich, dass ich durchaus gerne weitermachen möchte, möglichst ohne weiteres Hinfallen und wenn ich dann wirklich keine absolute Idiotin bin schaue ich mal nach, WARUM ich hingefallen bin. Vielleicht kann ich daran was ändern, also falls ich weitermachen will ohne Hinfallen. Kann natürlich auch sein, dass ich ganz gerne hinfalle und dann ein bisschen liegen bleibe und andere sich um mich kümmern, hat auch einen gewissen Nutzen, kann manchmal angesichts der Gesamtumstände eine kluge Wahl sein. Wie Leute, die sich ein Bein brechen beim ersten Truppenausmarsch in den Krieg und dann leider zurückbleiben müssen, sind hinterher dann auch nicht tot oder die immer wieder sagen neeee ich kann nicht kochen und dann immer die Kartoffeln anbrennen lassen, irgendwann kocht wer anders, ist doch prima.

Krönchen. Meine Güte.

15 Kommentare zu „Hinfallen, Krönchen richten, weitermachen! Carpe Diem!“

  1. Vielen herzlichen Dank! Perfekt zerlegt….
    Den Krönchen Spruch höre ich regelmäßig als eher selbstbezogenes Statement von Frauen, die eigentlich mit nichts anderem, als dem Krönchen richten, beschäftigt sind. Vielleicht ist es doch ein gutes Lebensmotto, weil man bei der Tätigkeit kaum gefahrläuft, zu stolpern?

  2. Vielen herzlichen Dank! Perfekt zerlegt….
    Den Krönchen Spruch höre ich regelmäßig als eher selbstbezogenes Statement von prinzessinnesquen Frauen, die eigentlich mit nichts anderem, als dem Krönchen richten, beschäftigt sind. Vielleicht ist es doch ein gutes präventives Lebensmotto, weil man bei der Tätigkeit kaum gefahrläuft, zu stolpern?

  3. “ „Carpe Diem!“ ist ein Luxus für Leute, die nicht wirklich was zu tun haben. “
    Exakt. Das rahme ich mir ein. – Die verschärfte Form des „Carpe Diem“ gibt es übrigens für Eltern frisch geschlüpfter Zwillinge: „Genießt die Zeit!“

  4. :-), an meiner Büroand hängt „Carpe diem“. Es ist, wie immer im Leben, Auslegungssache, es hängt davon ab, was der/die Einzelne hineininterpretiert. Wenn dir jemand den Spruch bringt, wenn eh schon nix mehr geht, du Schmerzen hast, oder auch in deinem Beispiel der pflegenden Angehörigen, dann wirst du vielleicht sogar mildernde Umstände vor Gericht bekommen, solltest du im Affekt die Hand erheben. ;-).
    Und es gibt ja auch noch Carpe noctem, wenn du schon den diem nicht carpen kannst. (Bitte als Scherz verstehen!)

  5. Oh, ich habe den Spruch erst kürzlich in einer anderen Version kennengelernt und fand ihn gut:

    Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen.

    Er hat für mich etwas mit Selbstwertgefühl und Nichtunterkriegenlassen zu tun.

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