9. Oktober 2023

Ohne, dass ich es bemerkt hätte, habe ich den ganzen Weg im Büro durchgezählt. Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs braune Ratte! Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs braune Ratte! Wir sind hier ja schließlich in Hessen, alle sind verdächtig. Als ich im Büro ankam, traf mein mentales Durchzählen Kollegin S, die in meiner Tür stand und fragte „Haben Sie die AfD gewählt?“ „Sind Sie krank?“, fragte ich. Sie erwiderte nein, es gehe ihr zwar schlecht, aber nicht gesundheitlich. Sie könnte sich nur nicht vorstellen, wer diese Menschen sind und würde daher jetzt einfach alle Leute fragen. Bisher habe sich niemand offenbart. Wir kamen überein, dass wir unsicher sind, ob uns das erleichtert oder beunruhigt.

Ansonsten war der Tag verrückt. Morgens gingen unsere Wochenendaktivitäten durch die Presse, das war ein bisschen aufregend. Dann verbrachte ich längere Zeit damit, einem ausgebuchten Berliner Hotel ein Tageszimmer abzuschwatzen. „Sie haben fast 400 Zimmer und da wird doch wohl irgendwo eine frühe Abreise und eine späte Anreise dabei sein und dann können Sie das Zimmer quasi doppelt abrechnen, meine Güte, für 500 Euro würde ich das an Ihrer Stelle sogar selbst putzen und abgesehen davon hängt der Gast eh nur reglos in Videokonferenzen und macht keinen Dreck“, sagte ich. Welcher dieser Punkte der überzeugende war, weiß ich nicht, aber es ging dann.

Kurz darauf erhielt ich einen Anruf von Fragmente, der sehr geschäftsmäßig klang, sie informierte mich recht knapp, sie habe für uns einen Impftermin ausgemacht und teilte Datum und Uhrzeit mit. Mir war bis dahin nicht bewusst, dass ein Impftermin für mich ausgemacht würde, ich interessiere mich zwar für einen aber habe irgendwie bis in drei Jahren zu keinem Zeitpunkt Muße, mich nochmal zwei Tage mit impfkrank auf’s Sofa zu legen. Andererseits ist das natürlich besser, als mich nochmal eine Woche mit Corona ins Bett zu legen. Ich gehe also Freitag zur Coronaimpfung und Montag zur Grippeimpfung und am Wochenende dazwischen fahre ich zu den Geburtstagsfeierlichkeiten von Violinista und nehme vielleicht mit dem Auto einen Typen mit, den ich für so irre halte, dass ich nicht zu ihm ins Auto steige. Ob er ausreichend irre ist, zu mir ins Auto zu steigen, ist noch nicht ganz raus.

Abends war ich im Supermarkt, weil ich großen Appetit auf Frikadellen hatte. Ich mag überhaupt keine Frikadellen, weil mir Hackfleisch suspekt ist. Ich wäre aber ja eigentlich letztes Wochenende in München gewesen und wir wären im Spatenhaus eingekehrt, man hatte mir schon mitgeteilt, das Signature Dish des Spatenhauses seien die „Kalbsfleischpflanzerl“. Ich brauchte schon drei Anläufe, das zu tippen. Gruselig. Fleisch, das nicht in Urform daher kommt und dann noch von einem Kalb. Gleichzeitig habe ich immer heftige FOMO und natürlich muss ich das Signature Dish essen, es führt kein Weg daran vorbei, so dass ich jetzt schon seit etwa zwei Wochen komplett auf Kalbsfleischpflanzerl (Übung macht die Meisterin) ausgerichtet war und dann fiel der Besuch aus. Seitdem habe ich Appetit auf Frikadellen. Ich kaufe natürlich keine fertig abgepackten, Gipfel der Widerlichkeit und ich matsche natürlich auch nicht selbst in gehacktem Fleisch, um Frikadellen selbst herzustellen, K2 der Widerlichkeit. Ich kaufte also ein veganes Produkt, oder vegetarisch, keine Ahnung und nunja, ich wurde mitgerissen und was weiß ich, welches Ersatzprodukt da schmeckt, ich kaufte also alle verfügbaren veganen/vegetarischen Sorte. Fünf waren es. Zu Hause verspürte ich Erkärungsnot vor dem Kind, erläuterte also meine Gedankengänge, M fand alles absolut nachvollziehbar, sagte aber auch, wie immer sei „Mühlendings“ die Marke der Wahl. Das findet sie bei allen solchen Produkten. Auf dem Einkaufszettel steht daher häufig „Mühlendingszeugs“.

Die Mühlendingsfrikadellen waren als Trägersubstanz für Curryketchup und Senf geeignet, in der Textur auch sehr angenehm, im Geschmack ein solides „gut“, nur der Nachgeschmack ist mir etwas zu intensiv. Den werde ich gleich mit einem Apfel neutralisieren.

Frage in der Contenvorschlagliste heute: „Wer und/oder was (Mehrfachauswahl möglich) ist komplett wunderbar, perfekt, wie für Sie gemacht, einfach großartig?“ – Sie ahnen die Antwort vermutlich schon: kommt ganz drauf an, zu welchem Zeitpunkt Sie mich das fragen. Vorhin hätte ich gesagt „Mühlendingsfrikadellen“, jetzt wegen des Nachgeschmacks und weil ich ja schon satt bin nicht mehr. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre Mineralwasser mit viel Sprudel, Zimmertemperatur, große Glasflasche zweifellos das Beste auf der Welt für mich. Deshalb hole mich mir das jetzt.