Heute früh im Supermarkt habe ich Cassis-Kaugummi gekauft, aus Neugier, nicht aus Neugier in Bezug auf den Kaugummi sondern in Bezug auf das Leben.
Es war so, ich stand an der Kasse, meine Ware lag auf dem Band, vor mir hampelte noch aber eine Regaleinräumperson und sortierte die Quengelware durch, ein paar Dinge fielen um, sie räumte sie wieder weg, sprang dann rechtzeitig zu meinem Bezahlvorgang aus dem Weg und ich sah, dass der Kassierer diesen Cassis-Kaugummi mit über das Band gezogen hatte. „Hm, den wollte ich gar nicht, ich glaube, der ist runtergefallen“, sagte ich. Der Kassierer bot an, zu stornieren, reflexartig hatte ich aber schon meine Karte an das Lesegerät gehalten, der Kassierer bot natürlich an, „den Stornoschlüssel“ kommen zu lassen, Horrorszenario „den Stornoschlüssel kommen lassen“, das geht ja nie ohne mehrfaches Klingeln, lange Schlangebildung und Personen im Stechschritt mit tadelndem Blick einher, ich überlegte deshalb ganz schnell um und sagte „egal, ich nehme das, wenn einem was vor die Füße fällt, sollte man zugreifen, wer weiß, was sich daraus entwickelt!“ Der Kassierer war verwirrt aber auch erleichtert. Seitdem warte ich. Bisher ist nichts außergewöhnliches passiert bis auf, dass ich mir im Büro Früchtetee in die Tastatur gegossen habe. Ich trinke sonst nie Früchtetee, nur jetzt wegen der abklingenden Erkältung, ich fühlte mich irgendwie shitty, Sie kennen das vielleicht, wenn man sich eine Woche lang mit aller Kraft eingeredet hat, dass es einem super geht und dann ist der Tag, an dem das wirklich relevant ist, absolviert und dahinter liegt, nunja, sagen wir eine kleine Befindlichkeitssenke. So war das bei mir heute. Kleine Befindlichkeitssenke, Früchtetee aus Thermobecher, er war viel zu heiß, ich warf ihn um, der Becher schloss nicht richtig, also Früchtetee auf der Tastatur. Ohne Zucker oder sonstige Süßungsmittel, weshalb die IT unbeeindruckt war, sie ausschüttelte und mir zurückgab. Ich warte weiter. Wegen des Kaugummis, falls Sie zwischenzeitlich den Faden verloren haben.
Angereichtes Thema in der täglichen Contentvorschlagliste heute: Macht.
Ich hatte bereits einen kleinen Exkurs über Macht geschrieben – wer nicht aufmerksam war, liest am besten erst einmal nach. Wer dazu keine Lust hat, liest einfach weiter, ich wiederhole das Wesentliche kurz: ich hatte argumentiert, dass Macht notwendig ist, um das eigene Leben zu gestalten und Pläne verwirklichen zu können. Völlig normale Sache.
Nun ist es so, dass wir nicht immer dieselben Pläne haben wie andere, manchmal lassen sich unsere Pläne mit denen anderer noch nicht einmal vereinbaren. Wir nehmen ein ganz einfaches Beispiel aus dem Arbeitsalltag: Sie sitzen in einem Büroraum zu dritt, die Kollegin mit dem besten Arbeitsplatz kündigt, wer von den beiden verbleibenden bekommt den nun? Es gibt ihn halt nur einmal, Sie verbleiben aber zu zweit.
Kommen Sie mir jetzt nicht mit „richtig“ und „falsch“. Die beiden Sachen gibt es in der Regel nicht bzw. immer nur in ihrem eigenen Kopf und in anderen Köpfen ist richtig und falsch was anderes. Eventuell haben Sie sofort gedacht „na die dienstältere natürlich!“ oder sie haben gedacht „na die ältere natürlich!“ oder „na die, in Vollzeit natürlich und die in Teilzeit nicht natürlich!“ oder „na die, die bessere Leistung bringt natürlich!“ oder „na die mit dem Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule natürlich!“ oder „na die, die bisher den schlechtesten Platz hatte, als Ausgleich, natürlich!“ oder „na die, die bisher den zweitschlechtesten Platz hatte und die den drittschlechtesten hatte, rückt dann ja auch eins auf, natürlich!“. Natürlich.
Nehmen wir an, die Kollegin bekommt den Platz, die nicht Sie sind. Also die andere. Vielleicht finden Sie das richtig und denken „ja, ich gönne es ihr von Herzen, denn ich mag sie so gern und möchte, dass sie glücklich ist“. Kann schon sein. Wahrscheinlicher finden Sie diese Entwicklung aber enorm schlecht und denken „die kriegt immer, was sie will“, „die wird immer bevorzugt“ oder „die hat wohl wen erpresst“ oder „die ist wohl wem in den Arsch gekrochen“. (Dann sind Sie eine Zeit lang beleidigt und dann haben Sie es irgendwann vergessen und regen sich erst wieder darüber auf, wenn die Kollegin mit dem jetzt besseren Arbeitsplatz etwas anderes macht, was Ihnen nicht gefällt. Oder es fällt Ihnen dann auch nicht mehr ein und Sie reagieren nur unangemessen heftig, weil Sie einen unbewältigten halb vergessenen Groll mit sich herumschleppen.)
Was Sie an der Kollegin, die jetzt den tollen Arbeitsplatz hat, beobachtet haben, ist Macht. Und wenn Sie beim nächsten Mal den schönen Platz wollen, schauen Sie am besten gut hin, wie die Kollegin das bewirkt hat. Wer hat darüber entschieden, wer hat mitgeredet, wie war der Ablauf, wie sind die Verhältnisse der Player zueinander, wie verliefen Gespräche, was gab es noch zu beobachten. Machen Sie sich Notizen, machen Sie Grafiken, machen Sie Soziogramme. Macht kann man verstehen lernen, wie eine Fremdsprache, manchen fällt es leichter, manchen schwerer, Anstrengung gehört immer dazu. Beobachten Sie die Leute, die in Ihrem Alltag mehr Macht als Sie haben. Was machen die und was machen die anders als Sie? Wie verhalten die sich den ganzen Tag, mit wem reden Sie, wie reden Sie, was erscheint Ihnen unerwartet, was vorhersehbar, gibt es Muster, wie sind die Verflechtungen? Die Personen, die eigentlich wie Sie sind, aber irgendwie komischerweise vermeintlich besser wegkommen, sind alle gute Studienobjekte, bessere als Elon Musk oder Putin, die zweifellos auch Macht haben aber auf einer anderen Ebene, da sind Sie (vermutlich) nicht, so dass die in Ihrer eigenen Machtgestaltung eher keine Rolle spielen.
Was Sie sehen werden ist, dass diese Leute aus ihrem Umfeld für Ihre Macht etwas tun. Es reicht nicht, sich zurückzulehnen in der Überzeugung, eben Recht zu haben, die richtige Ansicht zu haben, denn wie wir ja oben schon gesehen haben, gibt es diverse richtige Ansichten. Abwarten, dass Ihr eigenes „richtig“ sich durchsetzt, ist mehr als nur naiv. Wenn Sie Ihr „richtig“ durchsetzen wollen, müssen Sie sich in den Wind stellen, gegen Wände rennen, Klinken putzen. Sie müssen sich sichtbar machen, denn wenn Sie nicht sichtbar sind, können sich andere Ihnen nicht anschließen und sie verlieren wertvolle Zeit damit, irgendwie verdeckt zu ergründen, wer Ihr „richtig“ teilen könnte – absolute Zeitverschwendung. Sie müssen reden und Ihr „richtig“ erklären, immer wieder, sie müssen positiv wirken, auch wenn Sie sich scheiße fühlen, Sie müssen Verbindungen zu Personen, die Ihr „richtig“ teilen, finden und halten, auch wenn sie sie eventuell persönlich überhaupt nicht leiden können, Sie müssen Ihr „richtig“ attraktiv machen und Sie müssen für das alles bezahlen, mit Ihrer Zeit, Ihrer Aufmerksamkeit, mit Ihren Nerven, oft müssen Sie sich auch entscheiden, welches Ihrer diversen „richtigs“ Sie verfolgen wollen, weil Sie oft nicht dieselben Personen für mehrere Ihrer Ziele mobilisieren können, manche müssen Sie also über Bord werfen, Ziele oder auch Personen, für beides bezahlen Sie und was das ist. mit dem Sie bezahlen, liegt in Ihrer eigenen Natur, bei manchen ist es Nachtschlaf, bei anderen Appetit, bei mir sind es unter anderem Fingernägel.
Und Sie brauchen jetzt nicht zu erwähnen, dass ja manche Personen durch ihre Position Macht haben. Die Position an sich ist nicht so relevant, klar können Sie jemandem einen schönen Titel geben, der Autorität verleiht, ohne Substanz dahinter wird jedoch von kurzer Dauer sein, denn Macht muss kontinuierlich gelebt, poliert, ausgerichtet, immer wieder unterfüttert werden. Sie ist nämlich etwas Fluides, sie muss ja, wie schon erwähnt, immer wieder zugestanden werden, sonst ist sie gar nicht da. Wir alle kennen solche zahńlosen Tiger als Vorgesetzte, die einen Titel, ein Amt haben, aber nichts gestalten. Wenn Sie einen sehen, so einen König Théoden, schauen Sie sich ein bisschen weiter um und finden Sie heraus: wer ist die Person, die in Wirklichkeit die Entscheidungen trifft, wo ist Gríma Schlangenzunge? Wie verlaufen die Fäden?
Genauso wenig wie aus einem Titel hat auch niemand Macht rein aus sich, aus der Natur, aus der eigenen Persönlichkeit heraus. Denn, ich sage es noch einmal, Macht muss zuerkannt werden. Macht haben wir nicht, während wir allein auf dem Klo sitzen, Macht haben wir immer nur vor anderen. Wenn wir Macht zuerkannt bekommen wollen, ist es eine oft genutzte Möglichkeit, uns so zu positionieren, dass es für andere sehr leicht ist, uns Macht zuzugestehen. Fragmente hat das kürzlich sehr schön und romantisierend beschrieben, sie sieht sich einer Person gegenüber, der sie Macht zugesteht und nimmt diese Macht als warm, verführerisch oder berauschend wahr. Diese Macht macht unterschwellig ein Angebot, wie eine Versprechung, vielleicht Anerkennung, Gemeinsamkeit, Coolness, im weitesten Sinne Liebe. Super, wenn das so funktioniert, dass man beim Scheitern der Beziehung in einem Status verzückter Bewunderung die Kehle durchgebissen bekommt, besser kann es ja kaum sein. Ich meine das völlig unironisch. Die Ideen und Ziele einer Person, die so liefert, trägt man gerne mit und wenn das Ende bitter ist, so war der Weg doch schön. Es ist eine hervorragende Dienstleistung, man möchte ja für Profis arbeiten, nicht für Deppen. Schauen Sie, wie es bei Ihnen läuft. Schauen Sie, worauf Sie selbst reagieren. Schauen Sie, worauf andere reagieren und wie es ihnen von denjenigen, die Macht ausüben, angeboten wird. Die Nachfrage bestimmt das Angebot, diejenigen, die Macht ausüben, haben das verstanden. Lassen Sie sich etwas bieten für die Macht, die Sie zuerkennen!
Jetzt gehen wir nochmal zurück nach oben. Macht ist notwendig, um das eigene Leben zu gestalten und Pläne verwirklichen zu können. Bisher haben wir hauptsächlich auf Machtstrategien geschaut, die offensiv, die souverän wirken. Natürlich können wir auch ganz anders vorgehen und z.B. über Angst Macht ausüben. Haben Sie Leute im Team, die herumbrüllen, wenn es nicht nach Ihrer Nase läuft und andere, die das vermeiden möchten, und daher lieber zustimmen? Sie sehen Machtausübung. Haben Sie Vorgesetzte, die mit Drohungen oder Abmahnungen um sich werfen und die Angestellten bemühen sich, nichts falsch zu machen? Machtausübung. Schauen wir auch mal auf Machtausübung durch Schwäche, vielen auch bekannt aus dem familiären Kontext: „ich kann nicht kochen“, „ich kann keine Möbel zusammenbauen“, „ich kann das Licht am Fahrrad nicht reparieren“, „ihr müsst mich nicht besuchen kommen aber nächstes Jahr um diese Zeit bin ich vielleicht schon tot“. Oder Enttäuschung: „Ich dachte, wenn ich schon zwei Kinder und vier Enkelkinder großgezogen und ihnen mein Haus überlassen habe, würde wenigstens eines davon mal sonntags anrufen!“ Oder Moral: „Du hast unseren Hochzeitstag vergessen, schämst du dich nicht?!“ Oder vielleicht haben Sie in dem Beispiel mit dem Arbeitsplatz oben auch nicht nur schlecht über die Kollegin gedacht, sondern auch schlecht über sie gesprochen. Damit sie beim nächsten Mal eben etwas schlechter dasteht und Sie selbst vielleicht einen Vorteil haben. Sie haben sich positioniert, andere haben zugestimmt oder nicht widersprochen. Das ist Machtausübung.
Das alles ist weder gut noch schlecht. Es ist einfach da. Und wenn Sie jetzt denken, nein, ich bin nicht so, ich will nur, dass das Richtige und das Gute sich durchsetzt, dann schauen Sie in den Spiegel und sagen das nochmal und werden sich klar, dass Sie von IHREM Richtigen und IHREM Guten sprechen. Und dann wenden Sie sich dem Studium zu, wie Sie das durchsetzen können, daran ist nichts Schmutziges. Sie halten es schließlich für das Richtige und Gute, was sonst könnte maßgeblich sein?
Macht und Konkurrenz.
Was ist mit Konkurrenz?
Kleine Klarstellung: die Macht, die *ich* habe oder haben könnte, ist „ zärtlich, warm, verführerisch, berauschend, ein Tier mit weichem Fell und scharfen Zähnen.“
Man legt sich da ein nicht ganz domestiziertes, exotisches Haustier zu, das viel Pflege erfordert, das hast du ja oben auch sehr gut beschrieben.
Achso, du meinst das eigene Gefühl im Umgang damit, schade, ich wollte dich noch fragen, wer das so spannend spielt, damit wir diese Person gemeinsam studieren können.
Ich habe nun (unter der Dusche) versucht, mein eigenes Gefühl bei eigener Machtausübung zu ergründen. Es ist vorwiegend handwerklich, dahinter im Idealfall ein Gefühl von Ruhe und Klarheit, in den Randbereichen viel Zerrissenheit. Wir sollten uns darüber austauschen.
Wie spannend. Ich habe das für meinen Arbeitsplatz kurz durchstudiert und komme zu dem Schluß: Mich so zu verhalten, wie Menschen das tun, die mehr Macht als ich haben, um das zu erreichen, das ist mir momentan ein zu hoher Preis für das, was dabei an „mehr“ rauskommt. Auch OK.
Die Erkenntnis hatte ich bei mir auch schon. Man kann sich auch Teilwege abgucken, die für einen persönlich funktionieren. Macht ja auch jede*r etwas anders.
Spannend. Ich arbeite in der Politik und beobachte das natürlich in Reinform und oft völlig unverdeckt, denn hier ist die Macht ja der Selbstzweck. Interessant wird es dann ab der zweiten Reihe, und das Beobachten und Verstehen dieser Strukturen in meinen Fachbereich gehört zu meinen Job. Ich lerne dabei sehr viel, was mir in allen Lebensbereichen sehr nützt, alleine durch Beobachtung. Ach, da habe ich jetzt ein bisschen was zum rumdenken, danke!
Interessant. Vor allem weil mir beim Lesen viele Beispiele einfielen, wie ich meine Macht handhabe bzw. ausübe.
Da ich aber eh in meinem Arbeitsbereich an „erster Stelle der Nahrungskette“ stehe, fällt es mir schwer, Menschen über mir zu finden, denen ich was abschauen könnte. Nicht dass es die nicht gäbe, doch da sind die Strukturen, Befugnisse und nicht zuletzt die Art von Arbeit anders, dass deren Handhabe für mich so nicht umsetzbar wäre.
(Ich weiß nicht ob ich das richtig ausgedrückt habe.)
Man kann das auch im Alltag beobachten. Im Supermarkt, beim Einsteigen in die Bahn etc.
Danke für Ihre klugen und zum Nachdenken anregenden Gedanken über Macht! Glücklicherweise haben Sie der Versuchung widerstanden, weibliche Machtausübung als grundsätzlich sozialverträglicher zu romantisieren – oder gar wie Gröhlemeyer „Kinder an die Macht“ zu fordern. Ich fürchte, die erste Regel der Machtausübung lautet und wird immer lauten: Macht korrumpiert – die Ohnmächtigen ebenso wie die Mächtigen.
Ich glaube nicht, dass Macht korrumpiert.