12. November 2023
Ich wachte gegen 8 Uhr eigentlich ausgeschlafen aus, stellte fest, dass meine Stimme wieder weitaus weniger vorhanden war und befand, dass ich das nicht akzeptiere. Also legt ich mich sofort wieder ins Bett und schief weiter, bis 11 Uhr. Und sprach dann einfach gar nicht und sagte mir, dass sicherlich alles in Ordnung ist und dass das Singen gut klappen wird. Nebenher lutschte ich die Schleimbonbons, die der Gesangslehrer empfohlen hatte (GeloRevoice), trank viel Tee, kaute Kaugummi (was die Hausärztin empfohlen hat, weil ständiger Speichefluss gegen Halsschmerzen gut ist) und schoss die Nase frei.
Um 15:30 verließ ich das Haus, holte ein drittes Paket mit einer Pailettenhose ab und konnte ganz unauffällig ohne, dass es irgendwie komisch klang „Ich möchte ein Paket abholen“ sagen. So war ich bester Dinge. Ich habe jetzt drei Pailettenhosen, mit jeder ist etwas nicht zu 100 % perfekt, in den nächsten zwei Tagen werde ich eine Entscheidung treffen.
Das Einsingen war mäßig, die Vorstellung lief dafür hervorragend. Da gab es ja nichts mehr zu schonen für später oder den nächsten Tag, ich war zufrieden, ich glaube, die Aufführung war insgesamt sehr schön. Vielleicht kann ich es in ein paar Tagen in der Zeitung lesen.
Jetzt ist die Stimme wieder komplett weg, aber das ist natürlich sehr egal. Dafür hab ich ein Blumensträußchen bekommen.
Frage in der täglichen Contentvorschlagliste: „Was bringt Sie zum Weinen.“
Interessanterweise gar nicht mal unbedingt Traurigkeit. Traurigkeit macht mich still. Ich weine hauptsächlich in zwei Situationen, die eine ist hormonzyklusbedingt und tritt alle paar Monate (nicht jeden) mal als PMS-Symptom auf. Ich empfinde dann eine tiefe, ehrliche Rührung in Bezug auf die ganze Welt. Mit allem darin. Die hässliche Stadttaube auf dem Dach, stellen Sie sich dieses kleine Leben mal vor. Einen Rückzugsort hat die ja so gut wie nicht, allen geht sie auf die Nerven aber gucken Sie ihr mal in die Augen, die Sie so komisch seitlich fixieren, weil mit beiden gleichzeitig geht ja offensichtlich nicht, die ruckartigen Kopfbewegungen, damit sie besser sehen kann, der gesamte Bewegungsablauf ist an die Suche nach Futter angepasst und ob das wirklich genug oder geeignet ist, was sie in der Stadt so findet, weiß ich nicht. Und um die Augen herum sind ganz winzige Federn, bestimmt sind die sehr weich. So niedlich! Und natürlich Menschen erst. Was sie für Kleidung anhaben und die haben sie sich ausgesucht, dabei haben sie sich irgendwas gedacht, wie verrückt das eigentlich ist und wie rührend zugleich, da ist jemand morgens aufgestanden und hat planvoll Stoff um sich gehüllt, vielleicht dabei Freude, Hoffnung empfunden, einen Plan für den Tag, wie viele Gedanken wohl in dem Kopf und was für welche. Das alles fasst mich an in diesem gelegentlichen hormonbedingten Zustand und treibt mir die Tränen in den Augen.
Die zweite Situation ist länger andauernde absolute Überforderung ohne die Möglichkeit, mich auch nur einen Moment zurückziehen zu können. Situationen, die mir als ausweglos erscheinen, in denen ich ständig über meine Grenzen gehen muss, obwohl ich weder will noch weiter aushalten kann. Erst kommt dann maßlose Wut und wenn die Situation sich auch durch diese Wut nicht auflöst, weine ich. Als Kind/Jugendliche kam das häufig vor und es kam auch häufig vor, als ich selbst ein kleines Kind hatte, das abends nicht und nachts nicht und eigentlich ums Verrecken überhaupt nie schlafen wollte oder das in den Kindergarten ging und die Schließzeiten hatten alle Urlaubstage aufgebraucht und dann war es krank und danach war Streik und dann war Konzepttag und dann war Betriebsausflug und dann war irgendwas anderes und es hat einfach nie geendet. Erst die unfassbare Wut, ich hab Türen eingetreten und Sachen an die Wand geworden, aber das Kind hat (natürlich) trotzdem nicht geschlafen, die Betreuungssituation hat sich (natürlich) trotzdem nicht verbessert. Dann habe ich geweint.
Das kam jetzt schon lange nicht mehr vor. In vielen Situationen, die mir früher ausweglos erschienen, habe ich jetzt mehr Handlungsmöglichkeiten. Und ich habe derzeit den großen Luxus, das niemand absolut auf mich angewiesen ist und ich auf niemanden absolut angewiesen bin, so kann ich mir die allermeisten Dinge selbst zeitlich einteilen und wenn ich nicht mehr kann, dann höre ich auf. Das gilt auch für den Job, ich arbeite häufig sehr intensiv und auch oft zu Zeiten, die andere für verrückt halten und gehe in Situationen in denen andere nicht sein möchten. Gleichzeitig höre ich immer exakt vor der großen Wut auf, das habe ich gelernt. Und damit auch vor dem Weinen.